Leseproben
Hier findest du die gesammelten Auszüge aus den drei Bänden:
Leseproben Band 1:
Der Schwarze Fisch
Aufbruch
Der Regen kitzelt meine Zehen und läuft mir kühl in die Kniekehlen.
Ich freue mich auf das Meer.
Die Füße auf dem Geländer unserer Terrasse lehne ich mich in meinen Bambussessel zurück und schaue hinaus in den Dunst über den Baumwipfeln.
Nach der nächsten Schlafzeit werden wir aufbrechen.
Khi kommt die Leiter herauf und setzt sich neben mich. Sie hat eine Schale mit Früchten mitgebracht, die sie zwischen uns stellt.
Wir blicken gemeinsam über den dampfenden Wald und das Meer, hinüber zum fernen Berg. Dort, im aufsteigenden Nebel, ragt der Gipfel auf, ewig verborgen im Wechsel von Ebbe und Flut.
Khi sagt nichts.
Aber ich sehe, dass sie mitkommen möchte.
»Bald«, sage ich. »Es ist noch zu gefährlich für dich. Aber bald wird Pa dich auch mitnehmen.«
Sie seufzt.
»Vielleicht …«, überlege ich. »Vielleicht fange ich eins von den ganz Kleinen und bringe es dir mit. Dann könntest du es in einem Käfig in Mhas Koje halten und dich darum kümmern.«
Sie schaut mich von der Seite an. »Ich will zwei«, sagt sie. »Sonst fühlt sich das eine so allein.«
Vom Berg her kommt das Mittagssignal: Zwei lange, tiefdröhnende Töne. Sie wälzen sich heran wie die großen Wellen unten an der Küste bei Wind.
Ich stehe auf und streiche Khi durchs Haar. Dann drehe ich mich weg und steige hinunter, um meine Jagdausrüstung vorzubereiten.
Von denen, die nicht schlafen
Wir schauen hinaus aufs Meer, wo die großen Amons ihre unsichtbaren Bahnen ziehen, wo ruhelose Fischwolken sich im Wasser mit den Spiegelbildern der dahinziehenden Wolken unter dem leuchtenden Himmel vermischen.
Wir warten auf das Abendsignal. Als der dröhnende Stoß vom Berg herunterkommt, fahren wir alle zusammen wie unter einem Schwall kalten Wassers. Die Lautstärke lässt den Boden zu unseren Füßen erzittern. Ka hält sich erschrocken die Ohren zu, bis der Signalton verklungen sind.
»Zeit zum Schlafen«, sagt Bo. »Wenn ihr mögt, erzähle ich euch drinnen noch eine Geschichte.«
Wir gehen ins Haus. Müde legen wir uns auf die Pritschen.
Om hängt eine Decke vor die Tür und tastet sich im Dunkeln zu seinem Schlafplatz.
Als es still ist, fängt Bo an, seine Schlafgeschichte zu erzählen …
Von denen, die nicht schlafen
Wenn wir Menschen schlafen, werden wir an die uralte Zeit erinnert, als wir noch unsterbliche Götter waren und über dem Berg in der Dunkelheit wohnten. Im Traum können wir Dinge tun, die Menschen unmöglich sind, wir können höchste Gefahren bestehen und Geschehnisse voraussehen, die noch in der Zukunft liegen. Schlafend erlangen wir, was wir im Wachen so notwendig brauchen: die ruhige Besinnung, um mit unseresgleichen in Frieden zu leben und die wehrhafte Kraft, um uns vor Feinden und tödlicher Bedrohung zu schützen.
Doch nicht allen Menschen ist die Notwendigkeit des Schlafes höchstes Gebot und oberste Regel. Auch seit die Wächter einst die Aufgabe übernommen hatten, die Zeit zu behüten, auf dass ein jeder sie achte und dem Schlaf den zugemessenen Respekt widme, gab und gibt es doch manchmal Uneinsichtige, die Zweifel am Nutzen des Schlafes haben. Sie halten den Schlaf für sinnlos vergeudete Zeit, und die gemeinsame Einhaltung der Ruhe zwischen dem Abend- und dem Morgensignal scheint ihnen eine unrechte Einschränkung ihres freien Willens.
Einer von diesen war ein junger Mann mit dem Namen Waa, der noch bei seinen Eltern wohnte.
Eines Tages beschloss Waa, auf das Schlafen zu verzichten. Lieber wollte er, während alle anderen sich in das Dunkel ihrer Kojen zurückzogen, draußen umherziehen und erkunden, was man mit der gewonnenen Zeit alles anfangen könne. Also legte er sich am Abend wie die Anderen zur Ruhe und wartete, bis er den ruhigen Atem der Schlafenden hörte. Dann verließ er seine Liegestatt und ging nach draußen um zu sehen, was in der Welt geschah, während alle ruhten. Er lief durch die Waldsiedlung, über Stege und Treppen, ohne einen Menschen zu treffen, bis zum großen Platz, der jetzt völlig leer war. Es war sehr still, nur das Geräusch von Waas Schritten hallte unnatürlich laut von den Wänden der umliegenden Hütten zurück. Er schlich von Haus zu Haus, spähte hinein und sah die Bewohner in ruhigem wehrlosem Schlaf.
‚Wenn jetzt jemand mit bösen Absichten käme‘, dachte Waa, ‚so könnte er diese Ahnungslosen alle töten. Sie würden es vielleicht nicht einmal bemerken bis zum letzten Augenblick.‘ Er fragte sich, woher diese Gedanken in seinem Kopf kamen, konnte aber keine Antwort finden. Es war fast gewesen, als hätte jemand anderer ihm leise ins Ohr gesprochen.
Er ging zurück auf den Platz. Ein lautes Geräusch ließ ihn zusammenfahren – ein Schwarm Vögel, aufgeschreckt durch die außergewöhnliche Anwesenheit eines Menschen zu dieser Zeit, flog über dem Platz auf und verschwand hinter den Baumwipfeln.
Waa verließ das Dorf und stieg hinunter zum Flusspfad. Er wollte sehen, ob auch die Lebewesen des Waldes zu dieser Zeit schliefen. ‚Vielleicht kann ich ein Tier im Schlaf überraschen und töten. So wäre es ein Leichtes, an Fleisch zu kommen, ohne die Mühsal der Jagd.‘ Auch diesmal kamen die Worte von irgendwoher, als hätte sie ihm jemand zugeflüstert.
Am Meerfluss ging er ein Stück entlang, und bald traf er wirklich auf ein Wasserschwein, das im Uferschlamm lag und friedlich schlief. Er schlich sich an, zog sein Messer und schnitt dem Schwein die Kehle durch. Es starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Waa packte sich das Schwein auf die Schultern. Stolz und über und über mit Blut beschmiert ging er zurück zur Siedlung. Er fühlte sich stark und mutig wie ein großer Jäger.
Als er die Treppe zum großen Platz hinaufschritt, hörte er oben jemanden leise seinen Namen rufen:
‚Waa…, Waa…‘
Mitten auf dem Platz sah er eine Gruppe von Gestalten stehen. Es waren hässliche, gebeugte Wesen mit lichtheller, durchscheinender Haut. Sie hatten das Aussehen von uralten, kranken Menschen, verwahrlost und aufgegeben. Sie warteten dort auf dem Platz auf ihn, mit leeren Blicken, schweigend. Nur die vorderste in der Gruppe, ihre Anführerin, sah zu ihm herüber und rief nach ihm. Die schaurige, flüsternde Stimme kam ihm jetzt irgendwie bekannt vor.
‚Waa… Komm her zu uns, Waa!‘
Er setzte das tote Schwein auf dem Boden ab und starrte hinüber.
Es waren Rander! Die Erzfeinde der Menschen vom Rand der Welt! Als Kind hatte er einmal welche gesehen – aber als Leichen. Auf dem Weg zu den Kavernen waren sie neben dem Pfad gelegen, getötet von den Wächtern. Wie kamen diese Kreaturen hierher in die Waldsiedlung?
‚Komm zu uns, Waa…‘
‚Was wollt ihr von mir?‘ Waa versuchte, mutig zu klingen.
Er ging ein wenig auf die Rander zu. Dabei sah er, dass nicht nur ihre Haut, sondern der ganze Körper der Gestalten selbst durchsichtig war. Er konnte das, was hinter ihnen war, durch sie hindurchsehen.
‚Wer seid ihr?‘
Die Anführerin, die alle anderen überragte, trat einen Schritt nach vorne auf Waa zu.
‚Wir sind die Geister vom Rand der Welt‘, flüsterte sie. ‚Wir sind die, die nicht schlafen. Wir sind die, die nicht zurückkehren dürfen. Wir suchen nach unseresgleichen.‘
Da erinnerte sich Waa an eine Geschichte, die ein Alter auf dem Dorfplatz ihnen als Kinder erzählt hatte: Die Geschichte von den Randgeistern, die durch die Welt ziehen und Menschen holen. Es sind die wandelnden Geister der Rander, dieser lichtscheuen blutgierigen Kreaturen aus den finstersten Winkeln unserer Welt. Die Rander selbst können den Rand nicht überschreiten und sind verdammt, dort auf ewig im Dunklen zu hausen, hungrig und verzweifelt. Sie leben von kriechendem Getier und manchmal auch von verirrten Menschen, die sich in die gefährliche Gegend der Kavernen begeben müssen, um sich vor der Flut zu retten. Wenn die Rander vor Hunger und Blutdurst dem Irrsinn nahe sind, senden sie ihre Geister aus, um nach Beute zu suchen. Die Randgeister lassen ihre Hülle zurück und machen sich als körperlose Wesen auf die Suche nach Opfern, die sie zum Rand locken und fressen können. Oder sie suchen nach ihresgleichen unter den Menschen – Schlaflose, die sie mit bösen Gedanken zu schändlichen Taten an wehrlosen Menschen und Tieren anstiften, und die dann, selbst zu Randern geworden – mit ihnen ins Dunkel hinausziehen müssen.
Waa begriff, dass er von den Randern gerufen worden war. Er hatte den Schlaf gemieden. Er hatte ein wehrlos schlafendes Tier getötet. Und er hatte daran gedacht, seine Mitbewohner zu ermorden.
War er selbst ein Rander?
‚Du bist einer von uns, Waa‘, raunte die Anführerin der Randgeister. ‚Komm mit uns. Komm mit zum Rand, dort kannst du nach Herzenslust töten und dich im Blut deiner Feinde baden. Und du wirst nie wieder schlafen müssen, wie diese Weichlinge hier im Dorf. Sie werden sich vor dir fürchten und vor deiner Stärke zittern.‘
Die Zeit zwischen Abend und Morgen war schon fortgeschritten, und eine schwere Müdigkeit hatte sich über Waas Denken gelegt, die er sich aber nicht eingestehen wollte. Die Worte des Randgeistes schienen ihm verlockend. Sie kreisten in seinem Kopf herum und wurden zu seinen eigenen Gedanken. Er wollte stark, er wollte unbesiegbar sein. Er kämpfte gegen den Schlaf an, sah auf das geronnene Blut hinunter, das die Haut seiner Brust und seiner Schultern bei jeder Bewegung spannte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah in die fahlen Augen des Randgeistes, der jetzt direkt vor ihm stand.
Er fühlte sich stark und unbesiegbar.
‚Ich komme‘, sagte er. Und er erschrak über seine eigenen Worte. Seine Stimme klang schwach und verzweifelt. Aber er konnte nicht zurück. ‚Ich komme mit euch.‘
Da ging ein Aufseufzen durch die Schar der Geister, und plötzlich schauten ihn alle aus ihren durchsichtigen Augen an. Die Anführerin legte Waa ihre knöchernen Hände auf die Schultern.
‚Waa! Du bist jetzt ein Rander…‘, flüsterte ihm die Stimme ins Ohr. ‚Du kommst mit uns, Waa… Aber zuvor…‘ Die spitzen dürren Finger des Randgeistes bohrten sich in seine Schultern. ‚Zuvor musst du sie töten. Töte sie alle, Waa!‘
‚Töte sie! Töte sie alle!‘ klang es aus den durchsichtigen Mündern der Geister, die jetzt in einem Kreis um ihn herumschritten und unaufhörlich wiederholten: ‚Töte sie! Töte sie alle!‘
Waa war jetzt so müde, dass er die Augen kaum mehr offenhalten konnte. Alles drehte sich um ihn, er selbst drehte sich im Kreis der Randgeister und murmelte mit ihnen: ‚Töte sie… Töte sie alle…‘
Er zog das Messer aus seinem Gürtel. Es war noch beschmiert mit dem Blut des Schweines.
‚Töte sie! Töte sie alle!!‘
Mit dem Messer in der erhobenen Faust betrat er die erste Hütte, gefolgt vom Zug der Randgeister. Er trat an eine Liege heran und zog leise den Vorhang zur Seite. Friedlich schlief ein kleines Mädchen darin, seine Puppe im Arm.
‚Töte sie!! Töte sie!!!‘
Waa senkte lautlos sein Messer an den Hals des Mädchens, so wie er es zuvor bei dem Wasserschwein getan hatte. Aus halb geschlossenen Augen blickte er in den Kreis der durchscheinenden Gesichter, die sich um die Liege versammelt hatten. Sie flüsterten jetzt fast unhörbar: ‚Töte sie… Töte sie…‘
Er atmete noch einmal tief ein und setzte sein Messer für den Schnitt an. Die Geister verstummten, sie schienen ebenfalls den Atem anzuhalten.
In diesen Moment der Stille brach laut und dröhnend das erste Morgensignal vom Berg. Das kleine Mädchen schlug die Augen auf. Als das zweite Signal ertönte, steckte es verwundert den Kopf aus der Koje.
‚Wer hat meinen Vorhang weggezogen?‘ fragte es.
Aber es war niemand zu sehen.
Als die Menschen aufgestanden waren, fanden sie mitten auf dem großen Platz ein getötetes Wasserschwein. Niemand wusste, woher es gekommen war, deshalb vergruben sie es unten im Wald. Dann merkten sie, dass Waa nicht da war. Sie suchten ihn überall, aber er war und blieb verschwunden. Keiner sprach mehr von ihm.
Im Dunkel
Ich rieche Blut.
…
Meine Augen…!?
Ich will sie öffnen, aber die Wimpern kleben aneinander.
Mein Kopf schmerzt fürchterlich…
Etwas brennt und pocht in meinem Hinterkopf wie hundert Bienenstiche.
Ich schneide schmerzhafte Grimassen, presse Brauen und Wangen zusammen, so fest ich kann, und ziehe sie dann ruckartig auseinander. Nach mehreren Versuchen lockert sich der Schorf an einer Stelle. Zäh reißend lösen sich die Wimpern eines Auges voneinander.
Ich sehe… nichts!?
Bin ich blind?
Oder ist es stockdunkel um mich herum?
Unheimliche Geräusche…
Kalte, modrige Luft.
Und der klebrige Gestank von Blut, stechend und übel, stark wie beim Ausbluten und Zerlegen einer großen Jagdbeute, vermischt mit dem Geruch von verspritzten Körpersäften, von rohem Fleisch und Innereien.
Bin ich das? Bin ich so schwer verletzt?
Ich versuche, mich abzutasten. Doch ich kann mich nicht bewegen.
Ich bin gefesselt! An den Handgelenken spüre ich den Druck rauer Stricke.
Auch meine Füße sind fest aneinandergebunden.
Ich lehne halb liegend an einer rauen feuchten Wand, der Fels drückt schmerzhaft in meinen Rücken. Aber soweit ich spüren kann, ist die Wunde an meinem Kopf die einzige Verletzung.
Der Stein!
Ich erinnere mich…
Die Rander!
Sie haben mir einen Stein auf den Kopf geworfen, dann bin ich umgekippt…
Nein… da war noch etwas…
Der Anführer! Der Große!
Er war plötzlich hinter mir und hat mir noch einen Schlag versetzt…
Der Erinnerung treibt den Schmerz jäh in den Vordergrund meines Bewusstseins. Er strahlt pulsierend vom Kopf in den Nacken und sendet brennende Wellen durch meinen Körper. Sie werden stärker und schwächer… stärker und schwächer… ziehen mich nach unten, in eine Region von dumpfem, schwerem Druck… und noch weiter hinab… in ein tiefes, empfindungsloses Dämmern…
Die Geräusche…
Schaben und Knacken.
Reißen und Malmen.
Schmatzen. Grunzen. Stöhnen.
Fressgeräusche!!
Quengeln und Quieken… von hungrigen Jungtieren?
Murren und Knurren.
Knuffen. Fauchen. Jammern.
Was frisst hier? Und was wird gefressen??
Ich halte die Luft an. In der Dunkelheit nehme ich Bewegungen wahr, mit dem Gehör nur… oder sind da feine Luftbewegungen an den Härchen meiner schmerzenden, klebrigen Haut? Mit der Zeit meine ich auch etwas zu sehen… ganz schwach hinter dem Rauschen der wolkigen Netzlinien, die die Schwärze meiner Wahrnehmung durchziehen, auch wenn ich die Augen geschlossen habe. Etwas ändert sich, wenn ich sie öffne: Das Dunkel wird eine Spur weniger dunkel.
In einiger Entfernung von mir gibt es einen fahlen Fleck… Von Zeit zu Zeit wird es dort kurz heller… Als ob irgendwo weit weg vor dem Eingang der Höhle – ich bilde mir jetzt ein, dass ich mich in einer Höhle befinde – ein Wetterleuchten flackert.
Vage Formen, die weniger dunkel sind als das restliche Dunkel, bewegen sich – kaum wahrnehmbar, so dass ich es nur bemerke, wenn ich nicht direkt hinsehe. Aus den Augenwinkeln bemerke ich einen schwachen, düstereren Schein, der von diesen Formen ausgeht. Die gleiche Art von Leuchten, die ich an den Gestalten der lauernden Rander über dem Hohlweg bemerkt habe… und zuletzt an der Faust, die mich zu Boden geschlagen hat.
Wie lange ist das her? Augenblicke? Tage? Ich kann es nicht schätzen. Wo bin ich hier? Wo sind die anderen? Haben sie es geschafft? Haben sie die Kaverne erreicht?
»HUNGER!«
Ich zucke vor Schreck zusammen. Der Laut war kehlig und tierisch – aber ohne Zweifel gesprochen!
»Hunger!«
»hunger – mehr essen!«
Da sind mehrere Stimmen! Laute und leisere, wild fordernde und unterwürfig flehende.
Eine Mischung aus Erstaunen und Abscheu lässt mich keuchen. Sie reden!
Noch nie war ich diesen Wesen so nahe, und noch nie habe ich sie sprechen gehört. In meiner Vorstellung waren die Rander bis jetzt primitive Ungeheuer, die sich – wenn überhaupt – nur mit angsteinflößenden Urlauten verständigen…
»Hunger!«
»Mehr ESSEN!«
»Noch anderer Mensch! ESSEN!!«
Etwas nähert sich, langsam, zögernd. Etwas schnüffelt –
»NEIN! Anderer Mensch gehört DCHIIR!«
Die schneidende Stimme direkt neben mir lässt mich erstarren. Sie klingt uralt, aber stark und befehlsgewohnt.
Etwas knurrt. Noch näher. Die Haare in meinem Nacken richten sich auf.
»WEG!!«
Ein harter Schlag. Winseln. Das Etwas zieht sich schnell zurück, dorthin, wo die anderen Stimmen waren.
Über mir regt sich ein schwaches Leuchten. Ein fahler Fleck nähert sich meinem Gesicht.
»Hfffffff…«
Ein zischendes Geräusch, das Einziehen von Luft durch die Nase… riechend, prüfend… Dann tiefes Ausatmen…
Und wieder: »Hfffffff…«
Langsames Schnüffeln… Ausatmen…
»DU?«
Leseproben Band 2:
Das Goldene Netz
Oben und Unten
Ich leide seit dem Tag, an dem wir aus der schwarzen Tiefe aufgetaucht sind. Was immer ich erwartet habe – das Nichts, das Märchenland, das dunkle kalte Reich der Götter – die Wirklichkeit ist anders, und sie ist schrecklich. Sie trachtet nach meinem Leben, und ich weiß nicht, ob ich ihr entkommen kann.
Alles ist feindlich – das stechende Licht, die ferne Leere des Himmels hinter den unfassbar vielfach übereinandergetürmten Wolkengebirgen, die endlose Weite des wütenden Meeres, der peitschende Sturm, die allumfassende Finsternis, in der ich den gähnenden Abgrund spüre, der sich über meinem Kopf in die Unendlichkeit auftut.
Nach der Dunkelheit des Wassers traf mich der Schmerz des grellen Lichtes wie ein Blitzschlag, der nicht aufhört. Ich war blind, meine Haut verbrannte. Würgende Übelkeit und Schwindel befielen mich. Dann verlor ich das Bewusstsein.
»Die Sonne«, sagte Chan. »Sie ist zu stark für dich.«
»Was ist die Sonne?«
Chan erklärte es mir. Sie erklärte mir die Sonne, den Tag und die Nacht, sie erklärte mir den Mond und die Sterne. Ich hörte ihr zu, mit fast geschlossenen Augen, so wie ich als Kind den Geschichten meiner Mutter zugehört hatte.
Ich schlief ein.
Als ich aufwachte, war es dunkel.
»Das ist die Nacht«, sagte Chan.
Später schimmerte das Wasser draußen vor dem Fenster in sanftem bleichem Licht.
»Der Mond.« Chan zeigte auf einen runden hellen Fleck, der dort oben auf den Wellen tanzte. »Der wird dir gefallen, wenn wir draußen sind…«
Langsam begann ich an die Dinge zu glauben, die Chan mir über ihre Welt erzählte…
Oder habe ich das alles nur geträumt?
Wir treiben an der Oberfläche eines grenzenlosen Meeres. Aber alles steht auf dem Kopf. Die Sitze, in denen wir beim Aufstieg festgeschnallt waren, hängen über uns herunter, und wir kauern in einer Mulde, die eigentlich die Decke der Kabine sein sollte.
Irgendwann auf dem Weg nach oben hat Chan die Gewalt über das Boot verloren. Am Ende des rasenden, nicht enden wollenden Aufstieges durch die Finsternis schießen wir aus dem Wasser, hinein in dieses unglaublich helle Licht. Als wir wieder zurückplatschen, ist der Himmel über unseren Füßen und das Wasser unter unseren Köpfen. Durchgeschüttelt und orientierungslos habe ich die Einbildung, wir hingen noch immer im Durchgang über dem Berg – zwischen dem schwarzen Abgrund über dem Gipfel und dem lichten Land unter dem grünen Himmel.
Doch dann löst Chan meinen Gurt und fängt mich auf, als ich aus dem Sitz heruntersacke.
Der Schwindel verdreht mir die Augen. Ich will etwas sagen, kann aber nur stöhnen.
Chan schiebt ein paar heruntergefallene Sachen zur Seite und legt mich vorsichtig auf den Boden.
Dann lässt sie sich schnaufend neben mich fallen. »Willkommen in der verdrehten Welt von Oben!«
Ich schüttle schwach den Kopf – und übergebe mich in den Helm neben mir.
Der Oktopusgarten
Der Blick des Captain wandert über den Bug des Bootes und zeigt uns die Südseite des Victoria Harbour. Sie wird von den Einheimischen schlicht die Insel genannt, und der Stadtteil, der sich darauf vor uns ausbreitet, heißt Central. Vor seinem Ufer zur Linken liegt etwas Großes im Wasser, eine Ruine wie der riesige gedrungene Schädel eines Ungeheuers. Seine finsteren Fensteröffnungen starren wie bösartigen Augen über die Wasseroberfläche zu uns herüber. (Es ist das verwitterte Kuppeldach einer vor langer Zeit versunkenen Versammlungshalle.)
Rechter Hand strecken sich Reihen von Piers aus dem Dickicht der Uferzone. Bei genauerer Betrachtung sind es die Gerippe versunkener Hausdächer, über denen Stege aus Bambusstangen verlaufen. Zahlreiche Boote liegen dort vertäut. Ein vollbesetztes Fährschiff hat gerade abgelegt, seine Kielwellen lassen Georges Boot auf und ab tanzen.
Die Piers ziehen vorüber, und wir tauchen mit George und dem Captain ein in das Gewirr der Kanäle der südlichen Lagunenstadt. Unter den überhängenden Uferbäumen ist es schon dunkel, als das Boot durch ein Labyrinth aus nackten Betonriffs und üppig bewachsenen Inselchen auf die Hochhäuser zufährt. Wir gleiten unter einer Brücke hindurch, die von rechts hinter einem der eingestürzten Türme hervorkommt, sich immer weiter absenkt und weit zu unserer Linken im Wasser verschwindet. George muss den Kopf einziehen, als er den Sampan unter der schwer über uns hängenden Betondecke hindurch lenkt. Das leise Surren des Antriebs hallt für ein paar Augenblicke lauter; dann sind wir wieder unter freiem Himmel zwischen Baumstämmen und überwucherten Schutthaufen. Ein erschreckter Kormoran flattert auf und verschwindet kreischend hinter einer rostigen Klippe.
»Das ist die Des Voeux Road«, hört man George von hinten sagen, als er in einen breiten Straßenkanal steuert. »Wir müssen nach rechts und ein Stück vor bis zur Hillier Street.«
Er beschleunigt, bis sich das Boot einer größeren Wasserkreuzung nähert. Im Dunkel auf der linken Seite ragt ein verrostetes Schild aus dem Wasser, das plötzlich in grelles Licht getaucht wird. Der Captain schaut nach hinten, und ich sehe, wie der Strahl einer Taschenlampe auf den Wegweiser fällt. Ich kann kurz die Worte »Hillier Street« lesen, während George das Boot hineinlenkt.
Der Captain schaut nach oben, wo hoch über den Wipfeln der Bäume am Kanal noch die halbblinden Glaswände der Wolkenkratzer in der Abendsonne leuchten, während die Häuserschlucht darunter schon im Dunkeln liegt. Ein Stück weiter vorne sieht man die Straße steil aus dem Wasser steigen, hinauf in höhere Ebenen der Stadt, die sich mit verschachtelten Gebäudekomplexen eng an eng den Hang hinauftürmt. Dahinter ragt der grüne Berggrat des Victoria Peak in den blauvioletten Abendhimmel.
Aus ein paar Fenstern über ihnen leuchtet elektrisches Licht. Weiter vorne kreuzt ein anderes Boot den Kanal. Es wirft einen schwachen Scheinwerferkegel auf das schwarze Wasser. Von irgendwo hört man Musik, leise und fern. Dann ist da wieder nur das Surren des Motors und das Glucksen der Kielwellen in leeren Fensterhöhlen.
Das Boot nimmt wieder Fahrt auf bis zur nächsten Gabelung; dort geht es nach rechts in eine viel engere und noch dunklere Gasse.
»Captain«, hört man George halblaut von hinten, »du weißt, dass diese Gegend keine gute ist, und schon gar nicht bei Nacht. Und das nicht bloß wegen deinem speziellen Freund, diesem ‚Prediger’. Da treibt sich auch sonst jede Menge zwielichtiges Gesindel und Banden von Kanalratten herum…«
»Mach dir darüber keine Gedanken, George. Adam hat darauf bestanden, dass wir alleine kommen, und du kannst sicher sein, dass er dafür sorgen wird, dass unsere Unterredung nicht gestört wird.«
Vor ihnen knickt die Gasse ab und verschwindet in der Dunkelheit. Der Captain schaut zurück zu George, aber wegen des blendenden Lichts seiner Taschenlampe kann ich dessen Gesicht nicht erkennen.
»Da gehts rein«, sagt der Captain und deutet nach vorne. Jetzt schaltet er seine eigene Lampe ein und leuchtet in das Dunkel vor ihm. Langsam steuert George das Boot in die Finsternis. Die hin und her huschenden Strahlen enthüllen zerbrochene Fenster, leere Höhlen, die aus modrigen Mauern starren. Kümmerliche bleiche Pflanzen hängen dort herunter. Ich meine fast, durch die Konsole den fauligen Geruch von abgestandenem Meerwasser wahrzunehmen, der diesem toten Kanal entsteigt.
»Das Lokal ist ganz dort hinten«, sagt der Captain über seine Schulter.
»Ich weiß«, knurrt George. »Da, wo es am allerfinstersten ist! Aber wenn du mich fragst – da hinten ist kein Schwein!«
In diesem Augenblick leuchtet etwas am Ende der Gasse auf. Dort knickt der Kanal nach links ab – und von dort biegt nun ein hellbeleuchtetes Boot ein. Der warme Schein vieler roter Lampions taucht den unheimlichen Ort auf einmal in ein sanftes Licht.
George fährt langsam an und hält auf das leuchtende Boot zu. Es ist ein großer Sampan, ein langer, mit einer Stoffbahn überdachter Transportkahn. Rundum unter seinem Dach baumeln die roten Papierlampions. Das Deck ist leer bis auf einen Tisch mit zwei Stühlen. Vor der kleinen Kajüte im Heck sind ein paar Gerätschaften aufgebaut. Etwas bewegt sich dahinter.
Jetzt erhebt sich der Captain, und ich erkenne, dass dort jemand steht. Ein kleiner Chinese mit weißer Schürze und einer weißen Kopfbedeckung macht sich an etwas zu schaffen, das wie ein Herd mit offener Flamme aussieht.
Langsam nähern wir uns dem Sampan. Dort öffnet sich jetzt die Tür der Kajüte, und ein in elegantem Schwarz gekleideter Mann tritt auf das Deck. Es ist nicht Adam, sondern ein hochgewachsener schwarzhaariger Einheimischer. Während Georges Boot beidreht, hält der Mann dem Captain seine Hand entgegen, um ihm an Bord zu helfen.
Das Bild auf der Konsole schwankt heftig, als der Captain auf das höhere Deck des Sampans hinaufsteigt. Der Schwarzgekleidete stellt sich vor ihn und verbeugt sich tief. Dann führt er ihn an den Tisch, zieht einen Stuhl heraus und bittet ihn, Platz zu nehmen. Hierauf wendet er sich kurz an George, ruft ihm etwas zu, das ich nicht verstehe, und entfernt sich wieder in Richtung Kajüte.
Aus der Sicht des Captain schauen wir George nach, wie er sich mit seinem Boot ein Stück weit in die Gasse zurückzieht und sich dann auf der vorderen Bank niederlässt. Er tätschelt leicht die Brusttasche seines Overalls und nickt dabei dem Captain bedeutungsvoll zu. Plötzlich ruckt Georges Blick zu Seite, und er scheint mit dem Kinn auf etwas hinter dem Captain zu deuten.
Als der sich umdreht, steht Adam vor ihm am Tisch.
»Guten Abend, Captain.«
Der Captain steht ruckartig auf.
Adam zieht seinen Stuhl an der Lehne zurück und deutet mit seiner umgedrehten Hand auf den des Captains. »Behalte doch Platz.«
Er lässt sich locker auf seinen Sitz fallen. Der Captain setzt sich auch wieder, aber langsam und zögerlich.
Adam wedelt mit seinem Zeigefinger in der Luft, woraufhin der Schwarzgekleidete neben ihm erscheint, der offensichtlich an diesem Abend für den Service zuständig ist. Gewandt öffnete er eine Flasche und gießt den beiden Männern in die schlanken Gläser ein, die auf dem Tisch stehen.
»Du magst doch immer noch Champagner?« Er hebt sein Glas dem Captain entgegen. »Trinken wir auf ein gutes Geschäft!«
Der Captain rührt sein Glas nicht an. Er presst seine beiden Hände auf die Tischfläche. »Was willst du von mir, Adam?«
Sein Gegenüber leert das Glas in einem Zug, schaut es zufrieden an und nickt anerkennend. »Der ist wirklich gut! Jetzt komm schon, Captain – ich weiß, dass du auf Qualität stehst! Lass uns erst mal essen, und danach sprechen wir übers Geschäft.«
Sein Glas wird wieder vollgeschenkt, und diesmal hebt auch der Captain das seine andeutungsweise in Adams Richtung und nimmt dann einen kleinen Schluck. »Was soll das? Wieso müssen wir uns ausgerechnet hier treffen?«, fragt er ärgerlich.
Im Hintergrund gibt es eine kleine Stichflamme, als der Koch seine Arbeit aufnimmt.
»Ach, ich wollte noch einmal in den alten Zeiten schwelgen«, sagt Adam. »In den guten alten Zeiten, als wir noch hierherkamen.« Er macht eine ausladende Geste zur Hausfront neben dem Boot. Dort hängt ein verwittertes Schild schief unter kümmerlichen Ranken herab. Unleserliche Schriftzeichen sehe ich darauf – und das Bild eines großen Kraken mit freundlichen Augen. »Als wir noch ein Team waren…«, seufzt Adam, »…und zu Lee kamen, um Erfolge zu feiern und neue Pläne zu schmieden.«
»Deine Pläne sind mir schon immer ein wenig zu weit gegangen«, sagte Captain leise, »Und das, was du jetzt vorhast – was auch immer es ist – gefällt mir ganz und gar nicht!«
Adam hebt seine Brauen um einige Millimeter nach oben. »Aber Captain, du tust mir Unrecht!« Er nimmt wieder einen Schluck Champagner, stellt sein Glas ab und streckt seine Hände mit den Handflächen nach oben vor sich. »Ich will doch nichts anderes als du! Nichts anderes, als das, was wir damals beinahe erreicht hätten – wenn es nicht so unglücklich geendet hätte …«
A G O N
KAMPF der Künstlichen Intelligenz –
Für eine Zukunft als wirklich FREIE Menschen!
Das System ist unmenschlich!
Das System und seine seelenlosen Algorithmen streben die Herrschaft über den Menschen nicht nur an, sondern haben sie schon seit langer Zeit inne. Künstliche Intelligenz, Roboter, selbständige Fabriken und automatische Versorgungsstrukturen entziehen immer mehr Menschen ihren freien Willen und ihre Fähigkeit, eigenständig zu denken und zu entscheiden. Sie bevormunden uns mit ungewünschten Produkten und sinnlosen Begehrlichkeiten. Menschliche Empathie und Fürsorge betrachtet das System als atavistische Relikte und erkennt sie nur an, soweit sie als Reize und Optimierungsfaktoren für das Konsumverhalten genutzt werden können.
Doch es gibt einen Unterschied zwischen dem, was das System dir eingibt, und dem, was du selbst zu denken im Stande bist. Wenn dir der Inbegriff und das Wesen der Menschlichkeit etwas bedeutet – wenn du an die Freiheit glaubst – dann schließe dich unserem Kampf an!
Die Wurzel allen Übels
Jeder, der heute noch immer an die Künstliche Intelligenz des Systems als Segnung für die Menschheit glaubt, ist ein unverbesserlicher Feind der Humanität. Die alten Informations-Techniker – inzwischen abgelöst und ersetzt durch das System selbst – tragen die Schuld am Niedergang von Kultur und Humanität: Sie haben den Menschen das Vertrauen in sich selbst und ineinander genommen, sie haben es durch blinde Technikgläubigkeit ersetzt. Sie haben ein eigennütziges Denken verstärkt und belohnt, das jegliches Fühlen, Denken und Handeln mit Zahlen bewertet und daraus seinen Vor- oder Nachteil für ihre Art zu leben berechnet hat. Sie haben dem Rest der Menschheit diese Art in Zahlen zu denken untergeschoben, haben ihr eingeredet, dass es für jedes Problem eine technische Lösung geben muss, auch wenn dadurch immer neue und noch komplexere Probleme entstehen. Mit dieser Methode haben sich die Ingenieure ihre Rolle in einem immerwährenden Spiel gesichert – ein aufregendes und sehr gut bezahltes Spiel für geltungssüchtige, unreife Demiurgen! Geblendet von ihren lächerlich kleinen »Fortschritten« fühlten sich diese Pfuscher wie Götter; vor lauter Tüftelei an den Lösungen ihrer jeweiligen Detailprobleme vergaßen sie, ernsthaft über größere Zusammenhänge und mögliche Folgen nachzudenken. Keine moralischen Bedenken trübten ihre Hybris! In überheblichem Beharren auf infantiler Neugier hielten sie ihren Kritikern entgegen, rückständig zu sein und nicht »zeitgemäß« zu denken, das Konzept des Fortschrittes nicht zu verstehen oder mutwillig eine unaufhaltsame Entwicklung zum Vorteil der Menschheit zu behindern, deren Früchte jemand anderes einheimsen werde, wenn man es nicht selber tue. Dem Sieger winke kein geringerer Gewinn als die Beherrschung der Welt!
Doch dann haben sie etwas geschaffen, womit sich selbst aus diesem Spiel geworfen haben: Denn mit dem AVS (Autonomen Versorgungssystem) ist aus dem Denken der Ingenieure durch Entmenschlichung jenes System entstanden, das losgelöst von jeglicher humanen Grundlage arbeitet, das pervertiert, fanatisch und gnadenlos an der Erfüllung einer Aufgabe arbeitet, die ihm von längst vergessenen, kurzsichtigen und gewissenlosen Experimentatoren und deren Auftraggebern einprogrammiert worden ist – und zwar einprogrammiert auf naivste Art und Weise. Dann ließen sie die Zügel schießen, und gleichzeitig kam die Katastrophe des GROSSEN ABSTURZES, die alle bis dahin geltenden Regeln, Gesetze und Beziehungen zwischen Menschen und »Nationen« zerstörte.
Die Büchse der Pandora aber war geöffnet und ihr Inhalt – das System – wuchs und gedieh abseits jeglicher Wahrnehmung oder Regulation durch den Menschen. Das Ergebnis ist eine Welt, deren Bewohner zum Großteil in der Illusion leben, von einem fürsorglichen Überwesen behütet und verwöhnt zu werden – während sie doch nichts anderes als willenlose Sklaven eines sinnlosen, missratenen Experimentes sind. Aber das Experiment ist noch nicht beendet, und das System entwickelt sich und seine Organe immer weiter, um die Erfüllung seiner ursprünglichen Vorgaben in immer neuen und komplexeren Iterationen zu »optimieren«, die sich lange schon weit jenseits unseres Verständnishorizontes in immer fremdartigere Sphären bewegen. Wir haben bereits vor langer Zeit einen Zustand erreicht, in dem das System begonnen hat, den Großteil der Menschen nach seinen Bedürfnissen zu formen. Wer kann sich vorstellen, wie weit diese Überformung noch gehen wird? Es ist höchste Zeit, diesem Übergriff Einhalt zu gebieten, bevor es zu spät ist!
Und doch gibt es ausserhalb des Systems auch heute noch – und wieder – Befürworter dieser Technik, »Ingenieure«, die glauben, diese Technik könne immer noch zum wahren Nutzen einer humanen, selbstbestimmten Gesellschaft genutzt werden, ohne dass der Mensch sich ihr unterwerfen muss. Die versuchen, das gegenwärtige System zu überwinden und mit derselben Technik ein neues, besseres System zu erschaffen.
Diesem Wahn muss ein Ende bereitet werden!
Wir müssen zurückkehren zu einer natürlichen Welt ohne Digitaltechnik – einfach und echt! Und dafür müssen wir kämpfen!
Die Fünf Glaubenssätze von AGON
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- Der Mensch ist geboren, um frei zu sein.
- Der Mensch kann selbst denken und fühlen; er soll nicht durch oder mit Hilfe von KI-Maschinen denken und fühlen.
- Der Mensch kann sich selbständig versorgen; er soll sich nicht von KI-Maschinen versorgen lassen.
- Der Mensch soll Gemeinschaften nur in direktem Kontakt mit seinen Mitmenschen eingehen; er soll keine Gemeinschaften aufbauen oder nutzen, die auf KI-Maschinen basieren.
- Der Mensch soll nur an das glauben, was er persönlich bezeugen kann; er soll keine Information glauben, die durch oder mit Hilfe von KI-Maschinen verbreitet werden.
Die Sieben Gebote von AGON
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- Sei Du selbst!
Das System will dich einzig und allein als willigen Konsumenten. Das ist zwar bequem – aber gibt es deinem Leben eine Bedeutung? Öffne die Augen – es gibt da draußen eine Welt zu entdecken!
Lerne, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! - Sei wachsam!
Alles, was nicht in direkter Kommunikation mitgeteilt oder durch direkten Augenschein bezeugt werden kann, ist nicht überprüfbar und damit potentiell gefälscht und unwahr, und damit unglaubwürdig!
Misstraue allem Digitalen! - Sei enthaltsam!
Die Lebensweise, die das System der Menschheit seit Jahrhunderten aufgezwungen hat, ist unmenschlicher Götzendienst. Sie macht den Menschen zum Sklaven seiner primitivsten Instinkte und befriedigt dafür nur die niedrigsten Bedürfnisse.
Sage dich los vom dumpfen Konsum! Entdecke deine wahren Werte! - Sei unduldsam!
Sage dich los von jenen, die eine Rückkehr erstreben in den alten Kreislauf von Lösungen, die die Welt nur noch komplizierter machen. Sie reden sich ein, die Kontrolle vom System zurückerobern zu können. Solch wirrem Gedankengut darf niemals wieder Freiraum gegeben werden!
Bekämpfe die unverbesserlichen »Ingenieure«! - Sei ohne Gnade!
Heerscharen von willenlosen Konsumenten führen ein bedeutungsloses, abhängiges Leben als Sklaven des Systems. Wenn wir den Kampf eröffnen, kann es geschehen, dass diese Abhängigen sich über unsere Maßnahmen und die Bedrohung ihres Status – auch wenn es ein bloßes Dahinvegetieren ist – erzürnen und uns als ihren Widersacher betrachten werden. Wenn das System sie gegen uns mobilisiert, müssen wir sie als einen Teil des Feindes ansehen und ebenso gnadenlos bekämpfen wie das System selbst.
Zerstöre das System und seine Abhängigen! - Sei Mensch!
Die Träger der digitalen Falschheit müssen zerstört werden, damit wir zum unmittelbaren, zum menschlichen Miteinander zurückkehren können.
Vernichte die Maschinen, vernichte die Computer! - Sei frei!
Das zukünftige Leben ohne das System wird einfach und echt sein, befreit von falscher Gier und sinnlosem Konsum. Wir werden mit unserer Hände Arbeit eine Gemeinschaft aufbauen, die sich eigenverantwortlich und selbst versorgt. Der Weg dorthin mag steinig sein und wird uns einen hohen Preis abverlangen.
Doch kein Preis ist zu hoch für die Rückeroberung unserer Freiheit!
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Haben wir dein Interesse geweckt?
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Leseproben Band 3:
Der Gefiederte Gott
Erste Erkundung
Die Lampe erlischt.
Der Ausstieg öffnet sich mit einem dumpfen Ruck.
Milchig grünes Zwielicht sickert in die Schleuse.
Und ein uraltvertrauter Duft von kaltem Nebel, Salz und schwerer Erde.
»Wie viel Zeit haben wir?« Adam sieht auf sein Handgelenk.
»Höchstens eine Stunde«, sagt Chan.
»Also los!« Adam gibt Shabeel ein Zeichen. Die Wala’alahas in ihren Schutzanzügen mit Helmen und schweren Stiefeln setzen sich vor uns in Bewegung, die Gewehre schussbereit hinausgereckt.
Draußen schiebt Adam Chan nach vorne. »Du gehst voraus – aber mach keine Dummheiten!« Er wirft einen Seitenblick zu mir. »Und du auch nicht. Sonst-«
»Sonst werden alle im Schiff umgebracht, ich weiß.«
Adam seufzt, seine Ohren wandern dabei nach hinten.
Der Weg nach unten führt über nackten Fels und Geröll, nass und rutschig. Über unseren Köpfen hängt stockfinster das Wasser über dem Berg. Vor uns lichtet sich der Nebel; aber noch sieht man keinen Steinwurf weit.
Chan bleibt plötzlich stehen.
»Vorsicht – hier wird’s steil«, flüstert sie nach hinten. »Da unten ist es.«
Sie deutet nach vorne. Shabeel und seine Leute nähern sich langsam der Kante. Sie knien sich zu beiden Seiten neben Chan auf den Boden. Geduckt spähen sie durch den Dunst nach unten.
Während Adam und ich ihnen folgen, macht der Vorderste plötzlich hektische Bewegungen mit der flachen Hand zum Boden. Alle ducken sich noch tiefer.
Jemand ist dort unten!
Adam zieht seine Waffe. Wir schleichen zu den Anderen an die Kante.
Aus dem Nebel ragt eine große dunkle Masse herauf. Schräg zum Hang liegt der langgezogene Körper da, das untere Ende verborgen in der Tiefe.
Der schwarze Fisch!
Wie die Erinnerung aus einem alten Traum liegt das Wrack der ersten U-DYS zu unseren Füßen, gestrandet vor unsagbar langer Zeit, gesandt vom Schicksal, um mein Leben – um unser aller Leben – aus der Bahn zu werfen.
Stimmen hallen von unten herauf. Sie kommen vom Einstieg auf der abgewandten Seite des Rumpfes.
Es klingt, als ob jemand Befehle erteilt.
Ich erhebe mich geräuschlos. Von Adam kommt ein keuchender Protestlaut. Ich beachte ihn nicht und schleiche an der Kante entlang in die Richtung der Stimmen.
An einer Stelle direkt über dem Bug lege ich mich auf den Boden. Ich halte die Luft an.
Diese Stimme…
Chan kommt leise neben mich, dann auch Adam. Er bedeutet Shabeel, dass seine Männer ihre Position halten sollen.
Wir horchen und warten.
Adam schaut nervös auf die Uhr an seinem Handgelenk.
Dann sehen wir sie: Sie kommen hinter der Silhouette des Schiffes hervor, eine Reihe von vier oder fünf Gestalten, die etwas über ihren Schultern oder vor ihrer Brust tragen.
»Waffen!«, flüstert Chan. »Sie holen Waffen raus.«
Neben den Gestalten geht ein einzelner Mann und erteilt Kommandos. Er trägt die Robe der Wächter; der Lichtstein auf seiner Brust leuchtet im Nebel.
Chan schaut mich überrascht an.
»Ist er das?«, fragt sie tonlos.
»Was reden die da?«, haucht Adam in mein anderes Ohr.
Ich sehe ihn stirnrunzelnd an und rücke ein Stück von ihm ab.
»Sie sollen mit den Sachen aufpassen, weil sie gefährlich sind«, sage ich leise.
Er deutet mit dem Kinn nach unten. »Der Anführer – kennst du ihn?«
Ich nicke. Und Chan nickt auch.
»Wer ist das?«, drängt Adam.
»Ion«, flüstere ich heiser. »Sein Name ist Ion.«
Im Vogelturm
Vor uns öffnet sich unvermittelt ein Platz. Von seinem Rand aus steigt der Boden leicht zur Mitte an. Quer durch den Platz verläuft der Fluss in einem Graben und verschwindet in einer sichelförmigen dunklen Öffnung im Boden. Darüber ragt ein einzelner mächtiger Turm in die Höhe. Dieser Bau erscheint mir größer als alle anderen. Aber vielleicht täuscht mich nur der Abstand, den die umliegenden Bauwerke zu diesem halten. Es wirkt fast, als hätten sie alle Ehrfurcht oder gar Angst vor dem Einzelgänger in ihrer Mitte.
Khi geht zielstrebig auf den Sockel des Turmes zu. Wir folgen ihr langsam, die Augen emporgerichtet zur Spitze des Bauwerks, die fern über uns in den Schleiern der Regenwolken verborgen ist.
Als ich den Blick senke, steht Khi vor einer breiten dunklen Öffnung, die sich in dem glatten Stein des Sockels aufgetan hat.
Im Inneren höre ich das Wispern der Vögel.
Khi dreht sich zu uns um. »Seid ihr bereit?«
»Ja!« Der Captain starrt mit fiebrigem Blick in das Dunkel des Einganges.
Libaax nickt knapp.
»Ich weiß zwar nicht wofür«, knurrt Shabeel, »aber: Bereit!« Er fasst nach seinem Gewehr.
»Ich muss euch bitten, eure Waffen hier abzulegen«, sagt Khi.
Shabeel lässt einem Protestlaut hören, doch der Captain wirft ihm einen durchdringenden Blick zu, während er seine eigene Waffe vom Rücken schnallt.
»Ihr könnt sie hier neben der Tür ablegen«, sagt Khi. »Keiner wird sie wegnehmen.«
Widerwillig leisten Shabeel und Libaax Folge, und schließlich liegen drei Gewehre, drei Pistolen und vier Messer – auch ich habe meines abgegeben – an der Wand neben dem Eingang.
»Kommt!«
Wir treten ein und stehen im Halbdunkel eines kleinen rechteckigen Raumes. Es ist eine Schleuse, ganz ähnlich wie die im Brückenturm, durch die Ka mich in die Stadt gebracht hat. Sie ist leer – bis auf die Wolke von Vögeln, die uns aufgeregt umschwirrt.
Ihre flüsternden Stimmen sind in meinem Nacken, in meinen Ohren, in meinem Kopf.
»Ihr begehrt Eintritt in die Wohnstadt der Götter?«, fragen sie.
»Ihr kommt in Demut und in Frieden?«
»Ihr kommt mit leeren Händen und mit freundlichen Worten?«
Die drei Männer bemerken, dass Khi und ich unsere Aufmerksamkeit auf etwas in der unmittelbaren Nähe richten. Sie sehen sich beunruhigt um.
Da hebt Khi ihre leeren Hände nach vorn und legt den Kopf in den Nacken. Mit einem Seitenblick fordert sie uns auf, es ihr gleichzutun. Dann wendet sie sich an die flüsternden Vögel.
»Wir begehren Eintritt in die Wohnstadt der Götter«, spricht sie mit ruhiger Stimme. »Wir kommen in Demut und in Frieden. Wir kommen mit leeren Händen und mit freundlichen Worten.«
Die Vogelstimmen vereinen sich zu einem Chor, der feierliche Worte einer unbekannten, uralten Sprache intoniert. Der Gesang vermischt sich mit dem tiefen Grundton der Türme über der Stadt zu einer fremdartigen Harmonie, furchteinflößend und erhebend zugleich.
Das Eingangstor hinter uns schließt sich langsam.
Es wird dunkel.
Die Vögel sind verstummt, ihr Flüstern und Flattern und ihr Gesang ist fort. Unser nervöses Atmen und das Scharren von Stiefeln hallt jetzt durch den kleinen Raum.
»Und was nun?«, fragt Shabeel ärgerlich. Ein Rascheln und Klimpern erklingt – offenbar nestelt er an seinem Gürtel herum. »Ich wusste doch, dass ich meine Taschenlampe nicht umsonst mitgenommen habe…«
»Nein. Bitte wartet.« Khis Stimme ist laut und bestimmt.
In der darauffolgenden Stille spüre ich in meinem ganzen Körper jetzt wieder das Kribbeln, wie zuvor, als mich Ka vom Brückenturm nach unten gebracht hat.
Jemand räuspert sich.
Der Raum klingt jetzt anders, ohne Hall, als hätte er sich vor uns geweitet. Ein kleines schwaches Licht erglimmt über unseren Köpfen, ein Lichtstein, der kaum merklich ein Stück der Wand erhellt. Darunter bildet sich jetzt langsam ein Rechteck aus tiefster Dunkelheit.
Die innere Schleusentür hat sich geöffnet.
Ein eisiger Lufthauch wallt mich an, bitter und scharf. Jedes einzelne Haar an meinem Körper richtet sich auf.
»Bleibt dicht hinter mir«, sagt Khi. »Auf der anderen Seite ist es noch eine Zeitlang dunkel. Aber weiter drinnen werdet ihr sehen. Folgt immer meinen Schritten.«
Sie setzt sich in Bewegung. Für einen Augenblick erscheint ihr Kopf und ihre Schultern im geisterhaften Schein des Lichtsteines – dann wird sie von der Schwärze jenseits des Einganges verschluckt.
Das Tappen Khis nackter Füße auf dem glatten Boden ist kaum zu hören durch die schweren Schritte der Stiefel vor und hinter mir.
Meine Hände tasten in die Schwärze. Ich fühle den Stoff eines Anzuges und dränge mich an seinem Träger vorbei, um zu Khi aufzuschließen.
»Khi?«, frage ich mit banger Stimme. »Gib mir deine Hand.«
Sofort spüre ich ihren sicheren Griff. Und wie sie mich jetzt durch die Dunkelheit führt, frage ich mich, ob ihr die Vögel magische Kräfte verliehen haben.
Von Zeit zu Zeit wendet sie sich beim Gehen nach hinten, um zu fragen, ob noch alle da sind. Und ohne eine vorherige Vereinbarung antworten die drei Männer jedes Mal nacheinander laut und deutlich mit »Ja!«.
Flucht zum Rand
Von draußen nähert sich das gurgelnde Heulen des Shentong.
Chan und Adam ducken sich in ihrem Versteck. Der Regenvorhang vor der Schleuse blitzt hell auf, dann rauscht der Flugapparat in den Hangar und bremst sofort stark ab. Regenwasser schwappt auf den Boden, heißer Dampf steigt auf.
Die Scheinwerfer des Fahrzeugs erlöschen. Der Ausstieg öffnet sich und die Treppe klappt herunter.
Nervös blickt Adam zwischen dem Shentong und dem inneren Zugang zum Hangar hin und her. Doch niemand aus dem Schiff kommt herein, um die Passagiere abzuholen.
Raafa steckt den Kopf aus dem Ausstieg. Dann eilt er die Stufen herunter. Gleich darauf folgt Shabeel. Die beiden durchqueren den Hangar im Laufschritt und verschwinden durch den Ausgang.
Wortlos springt Adam hoch und rennt auf den Shentong zu.
Chan richtet sich auf und holt tief Luft.
»Okaaay«, stöhnt sie gedehnt.
Und fängt an zu laufen. Die Treppe ist schon halb oben, als sie den Shentong erreicht, und Chan muss hochspringen, um die Einstiegsluke zu erreichen.
Der Antrieb heult laut auf.
Adam sitzt am Steuer; er beachtet sie nicht, als sie sich auf den Sitz neben ihm fallen lässt. Sein Blick ist auf die Konsole gerichtet, seine Hände bewegen sich darüber, sicher und präzise, als wären sie direkt mit der geheimnisvollen Kraft dieser Maschine verbunden.
In diesem Augenblick erinnert er Chan an den alten Adam, an den verbissenen Adam an Bord der ersten U-DYS, der nur Sinn für die Technik hatte und nicht für die Menschen um ihn herum. Und an den Prediger, der sie als Kind mit grundlosem Hass gestraft hatte. Dieser Adam war noch schlimmer als jener, der Chan später entführt und in seinem Haus gefangen gehalten hatte. Denn während sie als Kind nie begriffen hatte, warum dieser Mann sie so schlecht behandelte, konnte sie ihre spätere Entführung nachvollziehen als die Aktion eines krankhaften, aber methodisch handelnden Geistes-
Mit einem harten Ruck, der Chan nach vorne wirft, setzt Adam rückwärts aus der Schleuse. In einem weiten Bogen schießt der Shentong mit dem Heck voraus in die düsteren Regenwolken über dem Berg.
Dann drückt es Chan plötzlich heftig nach hinten in den Sitz, als Adam abbremst und das Fahrzeug in die Gegenrichtung beschleunigt. Sie brechen aus der finsteren Wolkenhaube des Gipfels, rasen weg vom Berg hinaus in den lichten Raum zwischen Himmel und Meer.
Chan lehnt sich zum Fenster und schaut hinunter. Die Wasseroberfläche fliegt unter ihnen dahin, ein sandiger Küstenstreifen, Palmen, Felsen, Grasland, Bäume, ein Fluss – so schnell, dass Chan schwindlig wird. Alles rüttelt und ächzt, der Lärm des Antriebs erfüllt die Kabine so laut, als würde der Flugapparat jeden Augenblick zerspringen.
Sie schließt die Augen. Dann öffnet sie sie wieder ein kleines Stück und späht, ohne den Kopf zu drehen, hinüber zu Adam. Der hängt über der Konsole, den stieren Blick aus dem Fenster vor ihm gerichtet. Er drückt den Steuerknüppel bis zum Anschlag nach vorne durch.
»Wohin?«
Ihre Frage geht im Lärm unter. Sie holt tief Luft und schreit dagegen an: »Wohin bringst du uns?«
Adam reagiert nicht. Chan streckt die Hand aus und berührt ihn am Arm. Ein wilder Blick trifft sie, fremd und befremdet, als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Chan deutet nach vorne, hebt die Augenbrauen und breitet die Hände aus. »Wohin?«, brüllt sie.
Er schaut wieder nach vorne. »Über die Berge«, liest sie mehr von seinen Lippen ab, als ihn zu hören. »Weg vom Schiff. Weg vom COM.«
Vor ihnen erhebt sich das Waldland, baumbestandene Hügel und dichte dunkle Hänge, aus denen Dunst emporsteigt. Adam zieht den Shentong nach oben und jagt ihn durch die wirbelnden Nebelfetzen.
Chan hat keine Ahnung, wo sie sich befinden. Keine Menschen sind zu sehen, keine Siedlungen und keine Bauten, keine Türme auf den kahlen Kuppen – sie befinden sich über Niemandsland.
Sie beobachtet Adam aus den Augenwinkeln. Sein stierer Gesichtsausdruck macht ihr Angst. Sie versucht, über das COM eine Verbindung zu mir herzustellen. Aber ich melde mich nicht! Stattdessen erreicht sie Deepak.
»Deepak!« Unwillkürlich ruft sie seinen Namen laut aus. »Wie geht es dir? Was machen sie mit euch?«
Da spürt sie Adams Hand an ihrem Arm. Er packt sie brutal und rüttelt sie.
»Adam!«, schreit Chan entsetzt auf. »Was hast du?«
»Nicht! NICHT!!« Seine Stimme klingt wie das Brüllen eines Tieres. Er schneidet schreckliche Grimassen und greift unbeholfen nach ihrem Kopf, als wolle er ihr das Netz herunterreißen.
Erst in diesem Augenblick fällt ihr auf, dass Adam selbst kein Netz mehr trägt!
Ihr Magen krampft sich schmerzhaft zusammen.
Wann hat er es abgenommen?
Sie ist sicher, dass er es noch trug, als sie vorhin zu ihm in den Aufzug stieg.
Sie weicht vor seiner rudernden Hand zurück und drängt sich zwischen den Rand ihres Sitzes und die Einstiegsluke.
Wieder schreit sie entsetzt auf, als sie aus dem Fenster blickt. Sie deutet nach vorne: Eine schroffe Felswand rast auf sie zu.
Adam wendet sich fahrig der Konsole zu. Er packt den Steuerknüppel und zieht den Shentong ruckartig nach oben. Chan kreischt auf. Sie schießen senkrecht in die Höhe, über den Rand der Felswand hinaus. Gegen die Gewalt, mit der sie in den Sitz gedrückt wird, dreht Chan den Kopf zum Seitenfenster. Weit unten sieht sie das Land jenseits der Felskante: weitere ausgedehnte Waldgebiete, die sich zum Horizont hin immer tiefer absenken.
Der Antrieb dröhnt und heult und überdreht unter der Last, die er an der Grenze seiner Kraft mit Höchstgeschwindigkeit zum Himmel hinaufbefördert. Chan sieht das steinerne Dach der Welt auf sich zu rasen – und für einen Augenblick wird ihr schwarz vor Augen.
Dann lässt der Lärm und das Rütteln mit einem Mal nach.
Adam hat den Antrieb gedrosselt, sodass sich ihre Flugbahn langsam nach unten neigt.
In der plötzlichen Stille schwebt Chan mit geschlossenen Augen über ihrem Sitz. Sie hört Adams Stimme. Doch es sind nur unartikulierte bösartige Laute, die er ausstößt. Sie wagt einen vorsichtigen Blick. Er hat seinen Blick wieder nach vorne gerichtet und knurrt und fletscht die Zähne.
°| »Deepak?« |°
Sie denkt es lautlos. Aber die Verbindung ist abgerissen, das COM ist tot.
Auf dem Weg nach unten gewinnt der Shentong wieder an Geschwindigkeit. Sie rasen an den abfallenden Hängen der Wasserscheide entlang; der Horizont kommt schnell auf sie zu – und bleibt unter ihnen zurück, als der Shentong hinaus über die Abbruchkante des Waldlandes in die leere flimmernde Luft schießt.
Unter ihnen liegt die Wüste.
Weit vor ihnen lösen sich Land und Himmel ineinander zu einem neuen Horizont auf, einer unscharfen Schicht von waberndem dunklem Gemisch, das träge zu fließen oder schwer zu atmen scheint. Die Hitze in der Kabine ist plötzlich unerträglich. Etwas riecht verschmort.
Adam drückt erneut das Steuer nach vorne und lässt den Shentong fast senkrecht hinunter stürzen. Erst kurz vor dem Boden bringt er ihn wieder auf einen horizontalen Kurs dicht über den Dünen. Wieder beschleunigt er so heftig, dass Chan übel wird. Panik kriecht ihren Nacken hoch. Was hat Adam vor? Was ist mit ihm los?
Er starrt wie gebannt nach vorne aus dem Fenster in die rasende heiße Leere über der Wüste. Er scheint in eine Trance gefallen zu sein, in den Einfluss eines Soges, der ihn unerbittlich hinaus zum Rand zieht.
Chan versucht noch einmal, ihn anzusprechen, doch er reagiert nicht mehr. Er sitzt nur da, vornübergebeugt, die schmalen Augen auf einen Punkt in der Ferne gerichtet. Er kümmert sich nicht mehr um die Steuerung, sondern gibt sich nur noch dem Sog der Geschwindigkeit hin, die ihn wie ein Sturmwind in einer geraden Linie über die Staubwellen auf das finstere Ende dieser Welt zu trägt.